Bonner Querschnitte 34/2013 Ausgabe 269

Zurück

Wer braucht schon die Weltweite Evangelische Allianz?

Interview mit dem Vorsitzenden der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz

(Bonn, 10.09.2013)

 

BQ: Können Sie kurz die grundsätzlichen Aufgaben und Ziele der WEA beschreiben?

Thomas Schirrmacher: Organisatorisch ist die WEA zunächst ganz einfach der Zusammenschluss der Nationalen Allianzen von 129 Ländern, die jeweils in der Regel die Mehrheit der Evangelikalen bzw. evangelikal ausgerichteter Kirchen eines Landes repräsentieren, zusammengenommen etwa 600 Mio. Menschen. Die WEA hat dabei die Aufgabe, den Zusammenhalt zu fördern, zu koordinieren und solche Aufgaben zu organisieren, die nur eine internationale Organisation bewältigen kann, etwa die Vertretung der Evangelikalen in Sachen Religionsfreiheit beim UN-Menschenrechtsrat in Genf. Vor einiger Zeit war unser Generalsekretär etwa beim spanischen Justizminister wegen einer konkreten Benachteiligung evangelikaler Pastoren im Rentenrecht in Spanien. Er konnte Dinge in Bewegung setzen, für die die wenigen Evangelikalen in Spanien allein zu wenig Einfluss haben.

 

BQ: Die WEA, was ist das eigentlich? Sie hat nur eine kleine Zentrale, wenige Büros und kaum Angestellte. Wie arbeitet die WEA?

Nach evangelikalem Selbstverständnis gibt es keine Hierarchie, sondern gleichberechtigte Zusammenarbeit von Christen. Deswegen gibt es sehr viele ehrenamtliche Gremien mit Besetzung aus allen Erdteilen, aber eine sehr schlanke Verwaltungsstruktur. Es gibt eine kleine Verwaltung in New York, einige Pressebüros zusammen mit örtlichen christlichen Medien, daneben jeweils ein kleines Büro der fünf Kommissionen (Mission, Theologie, Religionsfreiheit, Frauen, IT) und der Institute und Initiativen (Internationales Institut für Religionsfreiheit, International Institute for Islamic Studies, Leiderschaftsinstitut, Micha u. a.).

 

BQ: Wodurch wird die WEA finanziert? Von wem?

Zum einen zahlen alle Nationalen Allianzen einen kleinen Beitrag. Einige wenige nationale Allianzen zahlen freiwillig einen höheren Beitrag, etwa , indem sie für ein Gehalt der Zentrale bürgen. Dann gibt es einige Großspender. Die meisten vollzeitlichen Mitarbeiter sind aber einfach von anderen Organisationen oder Kirchen geliehen. So stellen uns Werke für verfolgte Christen Leute zur Verfügung, die die einschlägigen Vertretungen bei UN oder EU übernehmen. Die einzelnen Arbeitszweige bauen daneben ihren eigenen Spenderstamm auf, etwa die Missionskommission oder das Internationale Institut für Religionsfreiheit.

 

BQ: Haben Impulse und Entscheidungen der WEA überhaupt einen nachprüfbaren Einfluss auf die nationalen Allianzen?

Ja, nur eben nicht wie bei anderen Organisationen durch die Hierarchie, die Gehorsam fordern könnte, sondern durch internationale Gespräche hin zu einer biblischen Gemeinsamkeit. Als wir etwa begannen, verfolgte Christen international rechtsanwaltliche Unterstützung zu vermitteln, gab es glühende Verfechter und Kritiker. Wir haben lange daran gearbeitet, bis wir zusammen mit Christen aus Ländern mit Verfolgung ein Konzept erarbeitet hatten, dass alle als biblisch mittragen konnten. Anwaltlicher Einsatz und Rechtsweg ja, wie Paulus es etwa auch in Anspruch genommen hat, aber das Gebet muss immer eine größere Rolle spielen und das Wissen, dass wir keine Schönwetterreligion haben, sondern wie Christus oft leiden werden, muss Vorrang haben. Das hat dann zu einer großen Gemeinsamkeit geführt.

Kurzum: Der einzige wirkliche Zusammenhalt der WEA ist das Evangelium von Jesus Christus, die Überzeugung, dass Glaube eine persönliche und aktive Angelegenheit ist und die zentrale Stellung der Bibel. Wo wir uns auf dieser Basis einigen, können wir in der enormen Bandbreite von 600 Mio. etwas bewirken. Für Außenstehende mag das nicht nach Einfluss aussehen, aber ich glaube, der Papst würde sich manchmal freuen, wenn er so viel Einfluss auf die Basis seiner Kirche hätte.

 

BQ: Welche Aufgaben haben Sie als Vorsitzender der Theologischen Kommission, und was bestimmen Sie in der WEA?

Die Theologische Kommission, der ich vorstehe, koordiniert theologische Kommissionen aus allen Mitgliedsländern und sorgt für einen internationalen Austausch, schriftlich wie persönlich. Sie will helfen das biblisch-theologische und lehrmäßige Niveau der evangelikalen Bewegung zu heben, bei 40.000 Neubekehrten von nichtchristlichem Hintergrund pro Tag keine einfache Aufgabe! Außerdem entsendet die Kommission evangelikale Vertreter zu einer Vielzahl von säkularen und nichtevangelikalen Tagungen und Konferenzen, wo sie unsere Positionen darstellen und verteidigen.

Daneben berät die Kommission den Generalsekretär im Alltagsgeschäft in vielen Fragen, arbeitet Stellungnahmen der WEA aus und koordiniert die ökumenischen Gespräche. So hat die Kommission etwa die Stellungnahme zur Evangelisation „Evangelisation, das Markenzeichen der evangelikalen Bewegung“ verfasst, die der Generalsekretär der WEA auf der Synode im Vatikan zum 50jährigen Jubiläum des 2. Vatikanischen Konzils vorgetragen hat.

 

BQ: Können sie größere Projekte nennen, die auf dem Programm der Theologischen Kommission stehen?

Eine große Herausforderung ist das enorme Wachstum. Wie gesagt, 40.000 Neubekehrte pro Tag. Für viele steht keine angemessene biblische Unterweisung zur Verfügung. Das führt zu einer großen Zahl, die für Sonderlehren anfällig sind oder aber sich zu stark an Personen orientieren. Wir haben etwa eine mit der theologischen Kommission der Lausanner Bewegung gemeinsam erarbeitete kritische Erklärung zum Wohlstandsevangelium veröffentlicht. Das wird zu vielen Gesprächen und Treffen weltweit führen.

Daneben steht etwa die Medienwelt. Aufgrund ihrer Präsenz werden die Evangelikalen ein immer selbstverständlicheres Thema der Medien, positiv wie negativ. Da gilt es sicherzustellen, dass wir uns möglichst oft selbst darstellen dürfen und andere uns nicht falsch darstellen – und dabei das Evangelium in Misskredit bringen. „Mission“ ist heute vor allem politisch umstritten und wir wenden viel Energie darauf, verständlich zu machen, was Mission aus unserer Sicht wirklich ist.

 

BQ: Im Moment scheinen vor allem soziale Projekte (Micha etc.) im Vordergrund zu stehen.

Da muss ich ehrlich gesagt schmunzeln. Unsere mit Abstand größte Kommission ist die Missionskommission und im Bereich der WEA arbeiten Hunderttausende von Missionaren. Die Micha-Initiative dagegen hat nur einen vollzeitlich beschäftigten internationalen Direktor und vielleicht ein Dutzend Mitarbeiter in den nationalen Zweigen weltweit. Aber es ist hier gut gelungen, ein ehrenwertes weltliches Ziel (Halbierung der Armut weltweit) zu teilen und auf unsere biblische Weise umzusetzen – mit Gemeinden vor Ort und ohne den Glauben an den allmächtigen Staat. Die Micha-Initiative ist vor allem eine große Plattform für das Gespräch zwischen Christen, die in armen Ländern leben, und solchen, die in klassischen Spenderländern leben. Außerdem ermahnen wir Politiker, statt sich selbst zu bereichern, ihrem Land und seinen Armen zu dienen. Im Übrigen: Dass wir uns der Armen annehmen sollen, steht nun wirklich so oft in der Bibel, dass wir als Bibelbewegung gar nicht anders können, als dies zum Thema zu machen.

Oder wählen wir ein anderes Beispiel. Unser hoher politischer Einsatz in Sachen Religionsfreiheit ist doch nur eine Folge der enormen Missionsanstrengungen, denn die Verfolgung ist dort am stärksten, wo unsere Gemeinden am schnellsten wachsen und umgekehrt. Im Übrigen kehren wir damit ja nur zu unseren Ursprüngen zurück, dem Einsatz für Religionsfreiheit in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

 

BQ: Wird es mit einem Deutschen an der Spitze der Theologischen Kommission jetzt wieder mehr theologische Impulse aus der WEA heraus geben (z. B. Gespräche mit dem Vatikan etc.)?

Das ist sicher keine Frage der Nationalität, denn wir haben hochkarätige Bibelkenner und Missionsleute aus allen Erdteilen dabei und ziehen an einem Strang. Aber tatsächlich werden die Evangelikalen immer selbstbewusster, ihre theologischen Anliegen nicht nur untereinander auszutauschen, sondern einer internationalen Öffentlichkeit und anderen internationalen christlichen Verbänden und Kirchen gegenüber darzustellen. Im möchte es einmal so sagen: Unsere Beziehungen zu Andersdenkenden sind freundlicher und besser als früher, gleichzeitig aber stellen wir unsere Positionen klarer, kompetenter und überzeugter dar.

 

BQ: Besteht da nicht die Gefahr der Verwässerung?

Wieso? Für Evangelikale ist die Einheit der Gemeinde Jesus zwar in Jesus selbst begründet und kann nur vom Heiligen Geist erwirkt werden, aber dies nicht an der Bibel und an Lehrfragen vorbei. Deswegen wünschen wir uns keine Einheit mit immer weniger ‚Bibel‘ und immer weniger theologischer Gemeinsamkeit, sondern auf der Grundlage der Bibel und im intensiven Gespräch darüber, was dem Evangelium entspricht und was nicht. Wir haben uns früher nicht zu viel gemeinsam hingesetzt und über Inhalte gesprochen, sondern zu wenig.

 

BQ: Sehen Sie denn auch Probleme?

Ja, selbstverständlich! Als Vorsitzender der Theologischen Kommission hat man schon oft schlaflose Nächte. Zum einen franst die evangelikale Bewegung ja an ihren Rändern in allerlei merkwürdige Bewegungen aus, in denen die Führer schon fast Heilsbedeutung erlangen, den Menschen Abenteuerliches versprochen wird oder zentrale Gemeinsamkeiten aller christlichen Bekenntnisse fallen gelassen werden. Nur durch die weltweite Zusammenarbeit der Evangelikalen ist es möglich – und auch oft mittelfristig erfolgreich –, solche Bewegungen für das biblisch begründete Evangelium von Jesus Christus als Zentrum des christlichen Glaubens zurückzugewinnen.

Das biblische Analphabetentum in unseren Reihen habe ich schon genannt. Es werden mehr Bibeln verbreitet, denn je zuvor, aber sie werden weniger gelesen!

 

BQ: Darf man fragen, was dass Besondere an Ihnen ist, das Sie für die Aufgabe mitbringen? Hier dürfen Sie zum Schluss auch einmal etwas weiter ausholen.

Meine erste Reaktion ist da: Wer sich selbst zu wichtig nimmt, steht Gott und anderen schnell im Weg. Aber ich will es trotzdem einmal versuchen:

1. Theologie muss allgemeinverständlich sein. Ich habe mich ehrlich gesagt immer recht wenig darum gekümmert, wie gut meine Bücher in den Rezensionen von Fachkollegen in akademischen Zeitschriften wegkamen. Theologie muss der Gemeinde und der Gesellschaft dienen, nicht sich selbst!

Ich erinnere mich an die Fachkritik beim Erscheinen meiner ‚Ethik‘, dass traditionell die Gemeinde (Kirche) und die Ekklesiologie kein Thema der Ethik sei. Ich dagegen gehe ausführlich darauf ein, weil meines Erachtens 1. Gemeinde Ethik verkündigt und deswegen darüber diskutieren muss, 2. Gemeinde für viele Christen das erste Einübungsfeld von Ethik ist, 3. die Autorität von Gemeindeleitung und ihr möglicher Missbrauch durch Machtmenschen ein eminent ethisches Thema ist, das diskutiert und transparent gemacht werden muss und 4. schließlich schwierige Themen wie ein Kirchenausschluss gerade den Ethiker interessieren müssen. Viele Christen haben mir das gedankt, aber wenige Theologen.

2. Ich schlage die Brücke zur Missiologie. Ich bin ja von Haus aus Missionswissenschaftler und habe mich dann erst der Systematischen Theologie, insbesondere der Ethik, zugewandt. Dadurch ist mein theologisches Interesse immer eingebettet gewesen in die weltweite Existenz der Gemeinde Jesu und ihre Stärken und Schwächen. Deswegen ist für mich das Thema Christenverfolgung immer ein zentrales theologisches Thema gewesen, denn was im Neuen Testament und weltweit eine zentrales Erfahrung der Christen ist, kann ich ja nicht einfach außen vor lassen, nur weil ich im vergleichsweise ruhigen und sicheren Deutschland Theologie treibe. In meiner Aufgabe als Vorsitzender kommt mir das natürlich heute zugute: Ich habe das Vertrauen großer Teile der verfolgten Christenheit im Globalen Süden, von denen ich persönlich und theologisch viel gelernt habe.

3. Ich schlage die Brücke von der Theologie zur säkularen Wissenschaft. Ich sage zu meinen Studenten immer wieder halb im Spaß, halb im Ernst: Als theologischer Ethiker weiß ich, wie es sein sollte, als Religionssoziologe weiß ich wie es ist. Das bewahrt Theologie davor, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen. Gerade als Evangelikaler ist es wichtig, mit offenen Augen selbstkritisch die Wirklichkeit zu sehen und zu erforschen, damit wir sie uns nicht schönreden. Probleme kann man nämlich nur lösen, wenn man akzeptiert, dass sie da sind und sie kennt.

 

BQ: Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dokumente

BQ0269.pdf