Bonner Querschnitte 02/2016 Ausgabe 397
Zurückâ??Schafft alle Gesetze gegen Apostasie ab, denn sie behindern die Menschenrechteâ??
Das Westminster Theological Seminary stellt eine umfasÂsende Studie der bekannten Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher über Apostasie in der zeitgenössischen islamischen Theologie vor
(Bonn, 19.02.2015) âSchafft alle Gesetze gegen Apostasie ab, denn sie behindern die Menschenrechte.â Diese Worte des Koranwissenschaftlers Abdullah Saeed aus den Malediven und Australien stellte Christine Schirrmacher über ihre Gastvorlesung. Sie hielt die Vorlesung anlässlich des Erscheinens der englischen Ausgabe ihres wissenschaftlichen Hauptwerkes âEs ist kein Zwang in der Religionâ (Sure 2,256): Der Abfall vom Islam im Urteil zeitgenössischer islamischer Theologen: Diskurse zu Apostasie, ... und Politik in muslimischen Gesellschaften, das zeitgleich in Europa und durch Wipf & Stock in den USA veröffentlicht wurde. Christine Schirrmacher war vom Präsidenten des Westminster Theological Seminary, Prof. Dr. Peter Lillback, eingeladen worden, in einer besonderen Gastvorlesung die Zusammenfassung ihrer Forschungsarbeit vorzutragen.
In seiner Einleitung sagte Peter Lillback dazu: âWir müssen die öffentliche Theologie stärken, und Dr. Schirrmachers Forschung über die Originaltexte der muslimischen Gelehrten ist eine zielgerichtete Forschung höchster Qualität. Der Kampf für Religionsfreiheit muss ein integraler Bestandteil christlicher Theologie sein.â Bei einem Treffen des Lehrkörpers der theologischen Hochschule früher am gleichen Tag hatte Lillback der Weltweiten Evangelischen Allianz dafür gedankt, auf hochqualifizierte Weise die Führung in Fragen wie Islam und religiöse Gewalt übernommen zu haben.
Das Westminster Theological Seminary entstand 1929 in Philadelphia aus dem Princeton Theological Seminary. Die Schule gilt als akademisches Flaggschiff der nicht-liberalen reformierten Kirchen mit Studenten aus rund 100 Ländern. Wie das Martin Bucer Seminar ist auch das Westminster Theological Seminary Mitglied der World Reformed Fellowship.
Christine Schirrmacher wurde von ihrem Ehemann, dem bekannten reformierten Religionssoziologen Thomas Schirrmacher begleitet, der Präsident des Martin Bucer Seminars und Vorsitzender der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz ist. Für ihn war am folgenden Tag eine Gastvorlesung am Westminster Theological Seminary über die neusten Entwicklungen in der Römisch-Katholischen Kirche angesetzt.
Drei Hauptpositionen zur Apostasie
In der Habilitationsschrift von Christine Schirrmacher ââEs ist kein Zwang in der Religionâ (Sure 2,256): Der Abfall vom Islam im Urteil zeitgenössischer islamischer Theologenâ wurden erstmals Originalstimmen aus der islamischen Theologie zur Beurteilung der Apostasie aufgearbeitet. Es wurden dafür Texte aus dem Arabischen, Englischen, Französischen und Urdu übersetzt und zugänglich gemacht.
Heute werden von islamischen Theologen im Wesentlichen drei Positionen zum Glaubensabfall vertreten: Die volle Befürwortung von Religionsfreiheit, die völlige Negierung von Religionsfreiheit mit Forderung der sofortigen Todesstrafe für Apostaten sowie eine Mittelposition, die innere Gedankenfreiheit gestattet und vor zu früher Verfolgung warnt, bei offener Apostasie (z. B. bei Ãbertritt zu einem anderen Glauben) jedoch ebenfalls die Todesstrafe einfordert â innerhalb der etablierten islamischen Theologie ist letztere die heute häufigste Auffassung.
Diese drei Hauptpositionen zur Apostasie stellt die Habilitationsschrift anhand der Veröffentlichungen dreier weltweit einflussreicher Theologen des 20. Jahrhunderts vor: Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926), Abdullah Saeed (geb. 1960) und Abu l-Aâla Maududi (1903-1979) verfügen über eine weltweit viele Millionen Menschen umfassende Anhängerschaft sowie politischen Einfluss, haben sich in ihren Veröffentlichungen intensiv mit der Thematik der Apostasie befasst und mindestens ein selbständiges Werk dazu publiziert. Diese âglobal playersâ auf der öffentlichen Bühne von Theologie, Politik und Gesellschaft genossen eine traditionell-islamische Ausbildung und folgen keinem grundsätzlich koran- oder islamkritischen Diskurs. Durch ihre Herkunft und weitgespannten Tätigkeiten in Ãgypten/Qatar, Malediven/Australien und Indien/Pakistan erlauben sie einen länderübergreifenden Blick auf die heutigen Beurteilung der Apostasie innerhalb der islamischen Theologie.
Die Studie erläutert, warum es in vielen islamisch geprägten Ländern auch heute für Konvertiten, kritische Intellektuelle, Künstler und progressive Koranwissenschaftler, Journalisten und Säkularisten, Agnostiker oder bekennende Atheisten, Aufklärer, Frauen- und Menschenrechtler sowie Angehörige nicht-anerkannter Minderheiten keine Religionsfreiheit im Sinne der UN-Menschenrechtscharta von 1948 gibt. Konvertiten und Andersdenkende sehen sich â von Land zu Land in unterschiedlichem Maà â zumindest Diskriminierungen ausgesetzt, häufig jedoch ebenfalls rechtlichen Benachteiligungen, gesellschaftlicher Ausgrenzung bis hin zu öffentlicher Ãchtung, willkürlicher Inhaftierung bis zu Bedrohung und sogar Mord. Grund dafür ist nicht vor allem die Gesetzgebung vor Ort, da nur in wenigen islamisch geprägten Staaten ein in der Verfassung oder Gesetzgebung verankertes Verbot der Apostasie existiert. Schariarecht gilt in den meisten arabischen Staaten ausschlieÃlich im Zivilrecht, nicht aber im Strafrecht. Meist erfahren Konvertiten den gröÃten Druck seitens der Familie und Gesellschaft, nur in wenigen Staaten kommt es zu offiziellen gerichtlichen Anklagen wegen Glaubensabfall.
Ãffentliche Meinungsführer aber, insbesondere einflussreiche Vertreter der islamischen Theologie, besitzen über vielerlei Kanäle groÃe gesellschaftliche Prägekraft. Der Transfer ihrer Auffassungen in Theologie und Recht, aber vor allem in die Mitte der Gesellschaft, steht im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Nach einem Ãberblick über die Beurteilung der Apostasie und den Umgang mit Apostaten in der Geschichte von der Frühzeit des Islam bis zur Moderne werden die wichtigsten Veröffentlichungen von Abdullah Saeed, Abu l-Aâla Maududi und Yusuf al-Qaradawi erläutert und ausgewertet. Die abschlieÃend gestellte Frage lautet, ob und unter welchen Bedingungen die Befürworter voller Religionsfreiheit in Zukunft ein gröÃeres Forum zur Verbreitung ihrer Auffassungen haben könnten.
Ãber die Autorin
Christine Schirrmacher ist habilitierte Islamwissenschaftlerin und lehrt als Professorin für Islamwissenschaft an den Universitäten Bonn und Leuven. Sie promovierte im Fach Islamwissenschaft an der Universität Bonn mit einer Arbeit zur christlich-islamischen Kontroverse im 19. und 20. Jahrhundert und habilitierte sich dort mit einer Studie über die Positionierung einflussreicher muslimischer Theologen des 20. Jahrhunderts zu Religionsfreiheit, Menschenrechten und dem Abfall vom Islam. 2013 vertrat sie den Lehrstuhl Islamwissenschaft an der Universität Erfurt, 2013/14 lehrte sie als TEA-Professorin an der Universität Tübingen am Institut für Humangeographie (Schwerpunkt Politische Geographie und Konfliktforschung).
Sie unterrichtet regelmäÃig als Gastdozentin an verschiedenen Akademien des Landes und Bundes, wie etwa seit rund 15 Jahren an der âAkademie Auswärtiger Dienstâ (ehemals Diplomatenschule) des Auswärtigen Amtes, Berlin, sowie fortlaufend als Gastdozentin bei Landes- und Bundesbehörden der Sicherheitspolitik.
Als Leiterin des âInternational Institute of Islamic Studiesâ (IIIS) der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA) ist sie auf nationaler wie internationaler Ebene an Dialoginitiativen und Diskursen mit muslimischen Theologen beteiligt, wie etwa der Nachfolgekonferenz zum âOffenen Brief der 138 muslimischen Theologen an Papst Benedikt XVI und die ganze Christenheitâ der Yale University New Haven, USA (2008) oder dem âBerlin Forum for Progressive Muslimsâ (2011; 2013), einer Fachtagung der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin.
Bibliografische Details:
· Christine Schirrmacher. âLet there be no Compulsion in Religionâ (Sura 2:256): Apostasy from Islam as judged by contemporary Islamic Theologians â Discourses on Apostasy, Religious Freedom, and Human Rights. 2016. 620 S. Pb.
· 49,80 EUR [D] ISBN 978-3-86269-114-2 (VKW, lieferbar via Amazon.de)
· 68,00 US$. ISBN 978-1-4982-9153-8 (W&S)
Links:
· Westminster Theological Seminary: http://www.wts.edu
· Die originale deutsche Ausgabe des Buches ist im Ergon-Verlag erschienen und kostet 78,00 EUR.
· BQ 365 zur Neuerscheinung der deutschen Ausgabe des Buches.
· Zur Autorin: www.christineschirrmacher.info
Downloads:
· Foto 1, Foto 2: Während der Vorlesung von Christine Schirrmacher
· Foto 3: Van Til-Halle, Ort der Vorlesung
· Foto 4: Christine und Thomas Schirrmacher mit Präsident Peter Lillback unter dem originalen Siegel des Westminster Theological Seminary
· Cover, komplett (pdf)
· Cover, Vorderseite (jpg)