Bonner Querschnitte 11/2015 Ausgabe 347

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Religion und Politik in einer freien Gesellschaft


(Bonn, 26.03.2015) Seit den Terroranschlägen in Paris zu Beginn des Jahres sind die Begriffe Integration und Identität, demokratische Grundwerte und Religion sowie religiöser Fundamentalismus und Gewalt zunehmend in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt. Im Rahmen einer gemeinsam von der Robert Schuman Stiftung, dem Forum Brussels International und der Hanns-Seidel-Stiftung in Brüssel am 19. März 2015 organisierten Diskussionsrunde analysierte der deutsche Religionswissenschaftler und -soziologe Prof. Dr. mult.
Thomas Schirrmacher, wie Fundamentalismus entsteht. Dr. Khalid Hajji, Buchautor und Generalsekretär des Conseil Européen des Ouléma Marocains, ging auf Aspekte und Konsequenzen von Gewalt und Radikalisierung im postmodernen europäischen Migrationskontext ein. Einen Überblick über Beiträge der europäischen Institutionen zur Bekämpfung von Extremismus präsentierte Katharina von Schnurbein, Koordinatorin für den Dialog mit Religionen und Weltanschauungen in der Europäischen Kommission, während Prof. Agdurrahman Mas’ud, Generaldirektor im Ministerium für religiöse Angelegenheiten der Republik Indonesien, über die Erfahrungen seines Landes mit fundamentalistischen Bewegungen berichtete. Moderiert wurde die Diskussionsrunde durch die Brüssel-Korrespondentin des Evangelischen Pressedienstes (epd) Isabel Guzmán.

Grundlagen für die Bekämpfung von religionsbasierter Gewalt

Prof. Schirrmacher identifizierte Intoleranz und absoluten Wahrheitsanspruch, gepaart mit der Bereitschaft, diesen auch unter Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt durchzusetzen, als Hauptursachen von gewalttätigem Fundamentalismus. Nicht die Religion sei das Kernproblem, sondern die Tendenz, Gewalt als Mittel zur Umsetzung von Zielen zu nutzen, anstatt durch Argumente zu überzeugen. Die frühzeitige Erkennung einer solchen Tendenz sei auch Aufgabe der Individuen in ihrer jeweiligen Gemeinschaft. Eine unmittelbare und unmissverständliche Reaktion innerhalb der jeweiligen Glaubensgemeinschaft sei erforderlich, um ihre Werte zu wahren und ihre Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Für Dr. Hajji ist der Kampf gegen politischen Radikalismus nicht weniger unverzichtbar als der Kampf gegen religiösen Radikalismus. Die Gefahr für Europa bestehe aktuell darin, dass beide Arten von Radikalismus sich gegenseitig einen Nährboden gäben. Die Panelteilnehmer waren sich darin einig, dass mit der Gewährleistung von Religionsfreiheit und anderen Menschenrechten sowie mit der Zusammenarbeit und dem friedvollen Austausch unter den Glaubensgemeinschaften ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung von militantem Fundamentalismus geleistet werden könne. Auch wenn die europäischen Institutionen keine Zuständigkeiten für diese Bereiche hätten, agierten sie als Katalysatoren und böten hierzu eine Plattform. Von Schnurbein erläuterte den holistischen Ansatz der Kommission, zu dem auch das „Radicalization Awareness Network“ (RAN) sowie ein Arbeitspapier zum Schutz von Opfern von Extremismus und Verbrechen aus Hass gehören, welches im November 2015 vorgelegt werden solle. Laut Prof. Mas’ud haben sich aus Indonesien nur etwa 500 „Foreign Fighters“ den islamistischen Terrormilizen angeschlossen. Das sei wenig im Vergleich zu Europa und in Relation zu den 200 Mio. Indonesiern, davon 87% Muslime. Mas’ud führte diese Tatsache darauf zurück, dass die Prinzipien von Toleranz, Mitgefühl und Nächstenliebe fest in der indonesischen Wertegesellschaft verankert seien und von einer starken zivilgesellschaftlichen Organisationskultur getragen und vermittelt würden.

Die Identität europäischer Muslime und die Rolle der Imame

Als einen der Auslöser für die wachsende Sympathie junger europäischer Muslime für den Islamismus nannte Dr. Hajji das fehlende Identifikationsmodell. Der Islamismus böte die Möglichkeit, eine eigene, sich an der islamischen Ursprünglichkeit orientierende Identität zu finden, die unsere postmoderne Gesellschaft den Muslimen nicht bieten könne. Dieser Islamismus entspringe zwar ihrer Phantasiewelt und nicht der Realität, doch böte er in einer Zeit, in der sich die Öffentlichkeit vermehrt auf Kommunikation und Wirkung, nicht aber auf Sinn und Bedeutung konzentriere, eine vermeintliche Orientierung. Hierzu werde einerseits die Notwendigkeit eines muslimischen Staates propagiert, in dem die Muslime den puritanischen Traum vom „unberührten Neuland“ verwirklichen könnten, und gleichermaßen gezielt jegliche Hoffnung zerstört, dass Muslime auch in einem nicht-muslimischen Staat eine akzeptable Zukunft hätten. Dieser Prozess finde in neuen, zum Teil unbekannten und virtuellen Räumen statt. Gefährdete Jugendliche würden sich von ihrer vertrauten Umgebung abwenden, was jegliches Eingreifen erschwere, so Dr. Hajji. Die Rolle von Imamen sei traditionell auf die Begleitung des Gebets ausgerichtet, und eine Beteiligung am öffentlichen Diskurs bilde die Ausnahme. Im Kontext der aktuellen Entwicklungen wäre eine angemessene Qualifizierung für Imame sicher wünschenswert, jedoch sei ein europäischer Bildungshintergrund noch keine Garantie für die Wahrung europäischer Werte, wie die Erfahrungen zeigten.


Religiöser Nationalismus

Prof. Schirrmacher berichtete über eine weltweit zunehmende und gefährliche Tendenz zu religiösem Nationalismus, der Nationalismus mit der Zugehörigkeit zur Mehrheitsreligion gleichsetze. Religion werde dazu missbraucht, politische Identifikationsmerkmale zu schaffen und andere Gruppen auszugrenzen. Hauptproblem sei die damit verbundene abnehmende Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten. Als Beispiele nannte der Religionswissenschaftler Entwicklungen in Indien, wo die in der indischen Verfassung garantierte Gleichbehandlung aller Religionen durch die Regierungspartei Bharatiya Janata Party infrage gestellt werde, und die Türkei, die sich fortschreitend von ihren laizistischen Grundwerten entferne.

 

Quelle: Opens external link in new windowhttp://www.hss.de/internationale-arbeit/themen/themen-2015/religion-und-politik-in-einer-freien-gesellschaft.html

 

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