Bonner Querschnitte 13/2010 Ausgabe 135

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Erneuter Prozesstag in Malatya am 14. Mai

Susanne Geske auf CNN Turk ausführlich interviewt

(Bonn, 12.05.2010) Nach der erneuten Verschiebung des Prozesses um die Ermordung von Necati Aydin, Ugur Yüksel und Tilmann Geske am 18. April 2007 in Malatya geht die Verhandlung am kommenden Freitag weiter – und unter normalen Umständen auch zu Ende. Der neue Termin war nötig geworden, da zwei der Verteidiger der fünf Angeklagten nicht zur Verhandlung am 15. April erschienen waren. Sie begründeten ihr Fernbleiben damit, dass sie noch mehr Zeit bräuchten, um ihre Schlussplädoyers fertigstellen zu können.

Derweil geht der mutmaßliche Rädelsführer weiterhin davon aus, vom „Staat“ weiterhin beschützt zu werden und bald nach Urteilsverkündigung wieder frei zu kommen. Er wird in seiner Meinung nicht zuletzt dadurch bestärkt, dass ihm ein hoher Beamter seine Tochter anverlobt hat, wie türkische Medien meldeten. Sollte dies zutreffen, wäre dieses Zeichen der Solidarität tatsächlich ein Hinweis darauf, dass zumindest dieser Beamte davon ausgeht, dass der dann Verurteilte nicht allzu lange im Gefängnis bliebe und die geplante Hochzeit in absehbarer Zeit stattfinden könnte.

Rückblick Prozess 15. April 2010

Erdal Dogan trug das gemeinsame Plädoyer der Nebenklage, ein Team von neun Rechtsanwälten, vor. In der 28-seitigen Schrift, die BQ im Wortlaut vorliegt, ging er unter anderem noch einmal ausführlich auf die – aus Sicht der Nebenklage sicheren – Verbindungen der Angeklagten zu der Geheimorganisation „Ergenekon“ ein. Er bezog sich dabei auf ein internes Strategiepapier, den „Kafes-Operations-Plan“ („Käfig-Plan“), der bei einer Razzia gegen Ergenekon in Istanbul gefunden wurde. In diesem Papier, das auf den März 2009 datiert ist, werden gleich zu Beginn die Morde an dem katholischen Pater Santore (Trabzon, Februar 2006), dem armenischen Publizisten Hrant Dink (Istanbul, Januar 2007) und an den drei Christen im Zirve-Büro in Malatya (April 2007) als „Operationen“ bezeichnet. Dieser Begriff sei, so Kenner der Lage in der Türkei, ein ausgesprochen militärischer Begriff, was damit einer Selbstbezichtigung gleichkomme.

Weiter unten entfaltet das Papier den Plan einer neuen „Operation“ in vier Phasen (hier zusammenfassend wiedergegeben):

  1. Phase: Vorbereitung: Adressen und Namen von Nichtmuslimen feststellen, deren Zeitungen, Schulen, Schüler, „Orte der Anbetung“ [gemeint sind Kirchen und Synagogen], Stiftungsräume und Friedhöfe feststellen.
  2. Phase: Einschüchterung: Abonnementen von AGOS [armenische Wochenzeitung; Hrant Dink war bis zu seinem Mord deren Chefredakteur] veröffentlichen, Wände der Häuser der Armenier auf Adalar beschmieren [Adalar ist die türkische Bezeichnung für die Prinzeninseln, die zu Istanbul gehören und wo verhältnismäßig viele Christen leben].
  3. Phase: Öffentlichkeit schaffen: Abonnenten-Liste in der Presse publizieren, Auftragskommentare sollen über diese Dinge erscheinen, in Diskussionssendungen sollen es darüber Berichterstattung geben verbunden mit dem Vorwurf, dass sich die AKP [gegenwärtige Regierungspartei] nicht kümmere, an die Übergriffe von 1955 und 1942 [massive Übergriffe gegen Juden und Christen] soll erneut erinnert werden, Aktivitäten gegen die AKP im Internet sollen stark zunehmen.
  4. Phase: auf den Prinzeninseln bomben: die Leute umbringen, die die Rechte der Minderheiten vertreten; Bomben zünden in der Umgebung der Agos Gazeti [armenische Zeitung]; Polizei beschäftigen mit Paketen, die wie Bomben aussehen; Anschläge auf die Landestege der Fähren auf den Prinzeninseln; Anschläge auf nichtmuslimische Friedhöfe; bekannte nichtmuslimische Künstler und Industrielle entführen; Brandanschläge auf Häuser, Fahrzeuge und Arbeitsstätten von Nichtmuslimen; in Istanbul und Izmir ähnliche Anschläge; an den Anschlagstellen mit einer Art Bekennerschreiben kommunizieren, dass ‚reaktionäre Gruppen‘ [Chiffre für AKP-Umfeld] hinter den Anschlägen stünden.

Dann zählte Dogan noch einmal minutiös die 35 ganz unterschiedlichen Angriffe auf Christen aus den Jahren 2007 und 2008 auf, um deutlich zu machen, dass die Morde von Malatya nicht völlig isoliert dastünden, sondern eingebettet seien in eine Vielzahl von Übergriffen. Um doch noch etwas über die mutmaßlichen Hintermänner herauszufinden, beantragte Dogan, einen neuen Zeugen zu hören. Da sowieso ein neuer Termin angesetzt werden musste, wurde dem Antrag Dogans vom Gericht stattgegeben.

CNN-Interview mit Susanne Geske

Um den letzten Verhandlungstag herum hat Susanne Geske, die Witwe des ermordeten Tilmann Geske, erneut viele Interviewanfragen von deutschen und türkischen Medien erhalten, so z.B. von CNN-Turk für ein Live-Interview am Freitag Abend (16. April). Dieses dauerte am Ende fast doppelt so lange als geplant. Hier einige Auszüge:

Susanne Geske zeigte sich zunächst „ein Stück enttäuscht“, dass der Prozess, „der nun schon so lange dauert“, nicht wie geplant zu Ende gegangen sei, sondern erneut verschoben wurde. Ihren Alltag betreffe dies aber nicht. „Wir bleiben hier, die Kinder gehen in die Schule. Alles wird so weitergehen, wie bisher. Wir sind sehr gern in Malatya, das war schon vorher so und ist auch heute. Die Menschen kennen uns jetzt, sind sehr freundlich. Die Nachbarn sehr hilfsbereit. Darüber freue ich mich natürlich sehr.“

Auf die Frage nach ihrem Empfinden gegen die Mörder ihres Mannes sagte sie: „Am Tag nach dem Ereignis konnte ich den Mördern vergeben. Das hat sich auch bis heute nicht geändert. Ich empfinde ihnen gegenüber keinen Hass, das kann ich aus tiefstem Herzen bestätigen, Rache oder ähnliches empfinde ich nicht.“ Im Zentrum des Prozesses stehe für sie nicht die Verurteilung der fünf Angeklagten, „sondern die Frage nach den Hintermännern. … Wer steht dahinter, wer waren die Auftraggeber für diesen grausamen Mord.“

CNN fragte, wie es zu der Idee gekommen sei, die fünf Männer zu besuchen: „Ja, die fünf Mörder im Gefängnis aufzusuchen und ihnen persönlich zu sagen, dass wir ihnen vergeben hätten, war der Gedanke meiner jüngeren Tochter. Sie hatte den schon gleich zu Anfang und sprach vor ein paar Wochen wieder davon. Aber ich denke, dass wir erst einmal das Ende des Prozesses abwarten, etwas Zeit verstreichen lassen sollten.“ Hintergrund dieser Idee der 11-jährigen Tochter war, den Mördern des Papas eine Bibel zu schenken, damit sie auch Jesus kennenlernen, dadurch am Ende im Himmel sein und so den Papa um Vergebung bitten könnten.

Ob sie als Familie psychologische Hilfe in Anspruch genommen hätten, war die nächste Frage. „In dieser Hinsicht haben wir alle keinerlei psychologische Hilfe in Anspruch genommen. Unser Psychologe ist Jesus Christus, mit dem wir ständig im Gebet verbunden sind. Wir lesen in der Bibel und empfangen Trost. Was die Vergebung anbetrifft: So wie Jesus Christus mir meine Schulde vergeben hat, so vergebe ich auch Menschen, die mir gegenüber schuldig geworden sind. Das ist mein Glaube. Normalerweise ist es doch so, dass Menschen in einer solchen Situation Hass und Rache empfinden Aber so ist es nicht, wenn jemand aus dem Glauben heraus lebt und auf Jesus Christus schaut. Die Kraft, vergeben zu können, kommt allein von Gott.“

Gedenkgottesdienste an den Gräbern zum 3. Todestag

Am Sonntag, den 18. April 2010 jährten sich zum dritten Mal die Morde. Aus diesem Anlass gab es an den Gräbern aller drei Märtyrer Gedenkveranstaltungen.

Zunächst trafen sich die Teilnehmer am Grab von Ugur Yüksel, der in einem kleinen Dorf in der Nähe von Elazig (ca. 100 km östlich von Malatya) beerdigt ist. Dafür waren insgesamt etwa 150 Christen zusammengekommen – von Van ganz im Osten der Türkei bis hin nach Istanbul ganz im Westen. Zudem waren etwa ein Dutzend Vertreter der Presse gekommen.

Danach fuhren alle nach Malatya, um Tilmann Geske zu gedenken. Er wurde damals unter schwierigen Umständen auf einem alten armenischen Friedhof beerdigt. Die Stadtverwaltung wollte das damals unbedingt verhindern, nicht zuletzt mit dem Hinweis, dass dort seit Jahren niemand mehr beerdigt worden sei (was nachweislich unzutreffend war). Nur durch die starke Intervention der deutschen Behörden (Botschaft in Ankara, Auswärtiges Amt in Berlin) war damals die Beerdigung in Malatya möglich geworden.

Im Zuge dieser Gedenkveranstaltungen der letzten Jahre kam Susanne Geseke auch in Kontakt mit der (nichtchristlichen) Familie, die auf dem Friedhof wohnt und für die Ordnung von den Behörden eingesetzt ist. Irgendwann kam die Tochter der Familie und fragte nach einem „Evangelium“. Bereits wenige Tage, nachdem sie es bekommen hatte, erklärte sie, dass sie jetzt mit Jesus leben wolle.

Am Sonntagnachmittag kamen dann noch einmal alle zu einem Gebetstreffen zusammen. Im Mittelpunkt stand das Gebet für die Christen in der Türkei, für ihren Dienst in diesem Land und für die Menschen der Türkei, so wie es im Vorfeld von den Verantwortlichen der Allianz der Protestantischen Gemeinden in der Türkei für diesen Tag vorgeschlagen worden war.

 

Downloads:

  • Initiates file downloadFoto1: Susanne Geseke während des Interviews mit CNN-Turk am Abend des 16.04.2010
  • Initiates file downloadFoto2: Am Grab von Ugur Yüksel am 18.04.2010
  • Initiates file downloadFoto3: Am Grab von Ugur Yüksel am 18.04.2010
  • Initiates file downloadFoto4: Am Grab von Tilmann Geseke am 18.04.2010
  • Initiates file downloadFoto5: Am Grab von Tilmann Geseke am 18.04.2010
  • Initiates file downloadFoto6: Am Grab von Tilmann Geseke am 18.04.2010 mit der Inschrift „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn“ (Philipper 1,21)
  • Initiates file downloadFoto7: Gebetsversammlung am Nachmittag des 18.04.2010
  • Initiates file downloadFoto8: Gerichtsgebäude von Malatya

Dokumente

BQ0135_01.pdf