Bonner Querschnitte 17/2009 Ausgabe 101

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Die Epidemie der seelischen Störungen fordert uns heraus

„Seelsorge im Wandel“ oder: Was wir von Wichern lernen können

(Bonn, 22.05.2009) Der Theologe Hans-Arved Willberg, Leiter des an das Martin Bucer Seminar angeschlossenen Instituts für Seelsorgeausbildung (ISA), fordert ein verstärktes christliches Engagement angesichts der immensen Herausforderung durch das immer weiter wachsende Problem der seelischen Störungen. In seiner kürzlich in der Reihe „MBS-Texte“ erschienenen Schrift „Seelsorge im Wandel“ schreibt Willberg, dass eine Rückbesinnung auf die Anfangszeit der Inneren Mission dringend geboten sei. Die heutigen Verhältnisse würden jener Zeit in vielem ähneln; die psychosoziale Not sei vergleichbar groß. Darum lohne es sich auch, neu auf Johann Hinrich Wichern, den Pionier der Inneren Mission, zu hören. Insbesondere die Seelsorge könne dadurch die nötigen Impulse erhalten, um sich dem Problem der seelischen Nöte offensiv und kompetent zu stellen. Dazu müsse aber nachhaltig das traditionell amtstheologische Bild von Seelsorge überwunden werden.

Willberg, Hans-Arved, Seelsorge im Wandel: Vom pastoralen Konfessionalismus zur diakonischen Professionalität. Ein Beitrag zum 200. Geburtsjahr Johann Hinrich Wicherns, MBS-Texte 112, 5. Jahrgang, Hg. T. Schirrmacher, Reihe Theologische Akzente (Martin Bucer Seminar, Institut für Seelsorgeausbildung, 2008)

Aus diesem Anlass stellen wir Ihnen folgenden Artikel des Autors zur Verfügung:

Immer mehr Deutsche sind psychisch krank

Die neuesten Gesundheitsreports stellen eine anhaltende alarmierende Entwicklung fest

von Hans-Arved Willberg

Im Jahr 2006 meldete das Robert Koch Institut, das viele umfangreiche und repräsentative Untersuchungen des Gesundheitszustands der Deutschen für das Statistische Bundesamt durchführt, dass die Bedeutung psychischer Erkrankungen mangelnder verlässlicher Daten wegen lange Zeit unterschätzt worden sei. Das Robert Koch Institut und die wissenschaftlichen Institute der großen Krankenkassen stellen zudem fest, dass schon seit einigen Jahren die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen immer weiter ansteigen. Im Gegensatz dazu ist der Trend bei anderen Krankheiten insgesamt rückläufig. In der Rangfolge der Fehlzeiten durch Krankheit stehen die psychischen Erkrankungen nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen, den Verletzungen und den Atemwegserkrankungen an vierter Stelle.

Aus dem Rahmen fallend ist bei den psychischen Erkrankungen vor allem die Länge der durchschnittlichen Krankheitsdauer. Während sie bei Atemwegserkrankungen zum Beispiel nur 6,4 Tag beträgt, fehlen der AOK zufolge psychisch kranke Arbeitnehmer im Schnitt 22,5 Tage pro Jahr. Fast drei Viertel der Betroffenen werden außerdem ihrer psychischen Störungen wegen mehrmals jährlich krank geschrieben. Besonders häufig sind Frauen betroffen und besonders lang dauern die Krankheitszeiten bei älteren Arbeitnehmern. Mit dem Alter nimmt auch die Häufigkeit der psychischen Erkrankungen zu. Da die Bevölkerung insgesamt immer älter wird, ist schon allein aus diesem Grund in den kommenden Jahren ein weiteres Anwachsen der Epidemie psychischer Störungen zu erwarten. Dem Anfang März erschienenen Barmer Gesundheitsreport nach kommt dadurch derzeit eine Summe von insgesamt 44,1 Millionen Ausfalltagen zusammen. Der wirtschaftliche Schaden wird auf vier Milliarden Euro geschätzt. Der Aufwand für die Behandlung dieser Störungen lag 2008 dem Statistischen Bundesamt zufolge bei 26,7 Milliarden Euro. Psychische Störungen sind mittlerweile der Hauptgrund für gesundheitsbedingte Frühpensionierungen.

Schon im Zusammenhang des Ende der 90er Jahre fertiggestellten groß angelegten „Bundesgesundheitssurveys“ wurde geschätzt, dass ungefähr 32 Prozent der Deutschen im „erwerbsfähigen“ Alter zwischen 18 und 64 Jahren im Lauf eines Jahres unter mindestens einer ernst zu nehmenden psychischen Störung litten. Ungefähr die Hälfte davon hätte sofortige therapeutische Unterstützung benötigt. Dass jedenfalls ein Drittel der erwachsenen Deutschen innerhalb eines Jahres seelische Störungen mit Krankheitswert erleiden, darf heute als gesichert angesehen werden. Für die gesamte EU wird von 27 Prozent gesprochen; für ganz Europa werden Zahlen bis zu 20 Prozent genannt. Im Jahr 2007 wurde die Zahl der erwachsenen Deutschen, die jährlich wenigstens eine psychische Störung entwickeln, auf 37 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer beziffert. Dass die Männer so „gut“ abschneiden, liegt nach Meinung der Experten nicht an ihrer größeren psychischen Stabilität, sondern an ihrer geringeren Bereitschaft und Fähigkeit, Schwächen zuzugeben. Männer kompensieren ihre Probleme darum auch eher durch „gesellschaftsfähige“ Verhaltensweisen wie Arbeitssucht und Alkohol. 

Die stärkste Zunahme ist bei den Depressionen zu verzeichnen. Sie nehmen heute vor den „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“ den ersten Platz der Häufigkeit psychischer Störungen ein. Die Weltgesundheitsorganisation rechnet damit, dass 2020 die depressiven Störungen nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen an zweiter Stelle der Krankheitshäufigkeit weltweit stehen werden und dass dann sowohl die meisten frühzeitigen Todesfälle als auch die meisten psychischen Behinderungen darauf zurückzuführen sein werden. Im Jahr 2006 erlitten 15 Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer in Deutschland mindestens eine depressive Phase. Einer von sieben schwer depressiven Deutschen stirbt durch Suizid. Der gesamtwirtschaftliche durch Depressionen entstehende Schaden in den EU-Mitgliedsstaaten wurde für 2004 auf 118 Milliarden Euro beziffert. Stark zugenommen haben auch Angststörungen und Süchte.

Einen Hauptgrund für die Epidemie psychischer Störungen sehen Experten in übermäßigem Stress am Arbeitsplatz. Es wird davon ausgegangen, dass diese Probleme in Zukunft noch weiter ansteigen werden. Folgende Faktoren werden genannt:

  • Termindruck
  • Zu hohe Erwartungen an das Arbeitstempo
  • Gesteigerte Komplexität der Arbeitsprozesse
  • Störungen der Arbeitsabläufe
  • Umstrukturierungen
  • Missverständnisse
  • Ungeklärte Kompetenzen
  • Probleme mit der Technik
  • Wirtschaftlicher Druck, der auf den Unternehmen lastet
  • Angst um den eigenen Arbeitsplatz
  • Mangelnde Anerkennung am Arbeitsplatz
  • Mobbing

Der Barmer Gesundheitsreport stellt fest, dass psychische Belastungen auffallend häufig in Berufen vorkommen, die mit großen psychosozialen Herausforderungen verbunden sind: Vor allem betroffen seien Krankenpflege und Sozialarbeit. Sehr gefährdet seien aber auch Berufe, die durch überdurchschnittliche Monotonie geprägt sind: hier seien vor allem Verkäuferinnen betroffen. Auch das Bildungsniveau spielt anscheinend eine deutlich begünstigende Rolle für die Entstehung seelischer Störungen.

Wie zuverlässig sind die statistischen Daten? Einerseits hat die Sensibilität für psychische Störungen bei der Bevölkerung wie auch bei den Medizinern zugenommen. Daraus darf vorsichtig gefolgert werden, dass eine gewisse Anzahl der Diagnosen übertrieben sein mögen. Andererseits muss aber auch mit einer großen Dunkelziffer gerechnet werden. Zum Beispiel weist die Erkenntnis, dass wohl nur etwa fünf Prozent der Muskel-Skelett-Erkrankungen eindeutig auf organische Ursachen zurückzuführen sind, auf den oft nur schwer wahrnehmbaren hohen Anteil psychosomatischer Hintergründe bei körperlichen Erkrankungen hin.

Der Psychologieprofessor Hans-Ulrich Wittchen, Leiter der Untersuchungen über die Verbreitung der psychischen Störungen und ihre Behandlung im Rahmen des Gesundheitssurveys Ende der 90er Jahre, bilanzierte eine „gravierende Unterversorgung“ von Menschen mit seelischen Erkrankungen. Der Barmer Gesundheitsreport 2009 konstatiert, dass psychische Störungen nach wie vor „selten frühzeitig diagnostiziert und noch seltener adäquat behandelt“ werden.
Der Verfasser des Barmer Gesundheitsreports 2009, der Arbeitspsychologe Professor Rainer Wieland, kommt zu dem Schluss, dass die psychische Gesundheit „die Herausforderung der Gesellschaft von morgen“ sein werde. Die Gesundheit würde „als Humanressource der Unternehmen im 21. Jahrhundert eine zunehmend wichtige Rolle spielen.“ Dabei gelte es, sich statt wie bisher auf die Pathogenese, also auf die Entstehungsfaktoren von Krankheit, zu konzentrieren, sondern mehr noch auf die Salutogenese, also auf die Bedingungen nachhaltiger Gesundheit. Seelische Gesundheit und Wohlbefinden seien eine Unternehmensressource, „die für die Wettbewerbsfähigkeit steigende Bedeutung“ erlangen werde. „Die Gesundheitskompetenz eines Unternehmens wird dadurch zukünftig auch eine wesentliche Schlüsselkompetenz eines Unternehmens darstellen“, sagte Wieland auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gesundheitsreports. Damit bestätigt sich wieder einmal mehr die These des christlichen Wirtschaftstheoretikers Leo Nefiodow, dass wir an der Schwelle zu einem neuen ökonomischen Zeitalter stehen, das die gegenwärtige Epoche der Informationstechnologie ablöst und maßgeblich durch die Faktoren „Gesundheit“ und „Sozialkompetenz“ geprägt sein wird.

Der Autor, Hans-Arved Willberg, steht für Interviews gern zur Verfügung und kann kontaktiert werden über:

Institut für Seelsorgeausbildung (ISA)
Hermann-Weick-Weg 1
76229 Karlsruhe

Tel.: (07 21) 66 55 - 1 49
Fax: (07 21) 66 55 - 3 98
E-Mail: willberg (at) isa-institut.de

 

Downloads:

  • Willberg, Hans-Arved, Seelsorge im Wandel: Vom pastoralen Konfessionalismus zur diakonischen Professionalität. Ein Beitrag zum 200. Geburtsjahr Johann Hinrich Wicherns, Initiates file downloadMBS-Texte 112
  • Initiates file downloadFoto des Autors
  • Initiates file downloadLogo des Instituts für Seelsorgeausbildung (ISA)


Dokumente

BQ0101_02.pdf