Bonner Querschnitte 20/2016 Ausgabe 415

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Muslime sind die häufigsten Opfer des Jihadismus

Christine Schirrmacher spricht in der Hochschulgruppe Asienhaus der Universität Bonn

(Bonn, 08.06.2016) In ihrem Vortrag „Der Syrienkonflikt: Machtkampf zwischen Sunniten und Schiiten oder machtpolitisches Ringen um die Vorherrschaft im Nahen Osten?“ bezeichnete die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher den Jihadismus als eine der größten Bedrohungen für den Weltfrieden. Als Folge von Terror und Tod im Namen des Islam zählten vor allem Muslime zu den Opfern, denn in den meisten Ländern stürben durch Anschläge und Hinrichtungen – wie etwa bei den jahrelangen Kämpfen im Irak – vor allem Glaubensbrüder der Attentäter. Zugleich litten friedliche Muslime weltweit auch dadurch unter Terror und Jihad, dass der Ruf des Islam als Religion nachhaltig beschädigt wurde.

 

Wir dokumentieren im Folgenden einen Ausschnitt des Vortrags:

Seit rund zwei Jahren halten Grausamkeiten und Gebietseroberungen des „Islamischen Staates“ (IS) die Menschen im Nahen Osten in Atem und nicht nur sie: Bis nach Europa hat das von Abu Bakr al-Baghdadi im Juni 2014 ausgerufene Kalifat des IS Auswirkungen, sind doch bereits einige Tausend Europäer in den bewaffneten Jihad nach Syrien und Irak gezogen, darunter auch über 700 deutsche Staatsbürger. Sicherheitsexperten sind besorgt über die Aussichten, dass etliche von ihnen radikalisiert zurückkehren und, kampferfahren und brutalisiert, möglicherweise Anschläge in Europa verüben könnten.

Wie kam es aber zu diesem Ausbruch von Gewalt und Terror im Nahen Osten, zur Proklamation eines „Islamischen Staates“ unter der Herrschaft eines „Kalifen“? Was ist unter einem „Kalifat“ zu verstehen und warum zieht es weltweit Sympathisanten, Kämpfer und Unterstützer an? Inwiefern nimmt die Terrorgruppe des IS überhaupt berechtigten Bezug auf den Islam – oder handelt es sich um eine bloße Form des Terrorismus? Und welche Rolle spielen politische Ambitionen der einzelnen Machtblöcke wie Iran und Saudi-Arabien sowie die historisch gewachsenen Feindschaften, die heute zu tieferen Gräben als je zuvor zwischen den einzelnen islamischen Gruppierungen wurden?

Im sog. „Islamischen Staat“ werden Hoffnung auf das Wiedererstehen des 1923/1924 durch Kemal Atatürk abgeschafften Kalifats geweckt, aber auch Hoffnungen auf die Entstehung einer gerechten Herrschaft, die sich von den despotischen, korrupten Regimen des Nahen Ostens unterscheidet, die im Zuge der Nationalstaatenbildung des 20. Jahrhunderts zwar eine äußere Hülle von Staatlichkeit etablierten, aber weder Gleichheits- noch Freiheitsrechte, weder Frauen, noch Minderheitenrechte, adäquate Bildung- und Arbeitsmarktchancen noch Rechtsstaaten begründeten.

Der arabische Frühling brachte für viele Verzweifelte die Hoffnung, dass Verbesserungen oder gar ein Ende der oft katastrophalen wirtschaftlichen Situation und Perspektivlosigkeit, der Unterdrückung Andersdenkender, der Bildungsmisere und des Machtmissbrauchs erreicht würden: dass die ausufernde Korruption eingedämmt und Rechtsstaatlichkeit hergestellt werde, sich die wirtschaftliche Lage verbessern werde, das versagende Bildungssystem reformiert werde, die Arbeitslosigkeit vor allem unter jungen Menschen verringert und die Verelendung der Massen in den Slums der Großstädte aufgehalten werden könne. Heute ist die Situation in den meisten Ländern nicht besser als vor den Revolutionen – was eine tiefe Krise des Nahen Ostens und die durchgängig schwachen Staaten offenbart. Es fehlen Konzepte des Aufbaus einer Zivilgesellschaft, des Pluralismus und Ausgleichs zwischen ethnischen und religiösen Gruppierungen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Staat und Religion. Frauen-, Freiheits- und Menschenrechte, Religionsfreiheit mit der Möglichkeit, auch den Islam verlassen und sich einer anderen Religion zuwenden zu können sowie Foren der freien Meinungsäußerung im öffentlichen Raum sind auch nach dem Arabischen Frühling größtenteils Desiderate im Nahen Osten geblieben. Das alles bildet den Untergrund für neue Radikalismen - auch für den sog. „Islamischen Staat“. Dieser Radikalismus wird am Leben gehalten durch den machtpolitisch aufgeladenen Konfessionskrieg zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitisch-wahhabitischen Saudi-Arabien.

 

Downloads und Links:

·        Einladung auf Facebook: Opens external link in new windowhttps://www.facebook.com/events/264503063890581/

·        Initiates file downloadFoto 1: Christine Schirrmacher während ihrer Vorlesung im Asienhaus

·        Initiates file downloadFoto 2: Begrüßung der Zuhörer und der Referentin Christine Schirrmacher

Dokumente

BQ0415.pdf