Bonner Querschnitte 30/2016 Ausgabe 425

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Naher Osten: Es fehlt an Konzepten zum Aufbau von Zivilgesellschaften

Christine Schirrmacher spricht am dies academicus der Universität Bonn vor überfülltem Hörsaal

(Bonn, 08.07.2016) Die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher referierte am dies academicus der Universität Bonn am 25.05.2016 vor 250 Zuhörern im überfüllten Hörsaal 9 zum Thema „Konfliktraum Naher Osten und ‚Islamischer Staat‘: Konfrontation mit dem Westen oder sunnitisch-schiitischer Konflikt?“

Bedrückend seien die vielen Faktoren, so die Professorin, die derzeit fehlten, um Hoffnung in der Region aufkommen zu lassen. Es fehle im Nahen Osten konkret an machbaren Konzepten zum Aufbau einer Zivilgesellschaft, zur Duldung von gesellschaftlichem und politischem Pluralismus, es fehle an Konzepten für einen friedlichen Ausgleich und einer gerechten gesellschaftlichen Teilhabe zwischen ethnischen und religiösen Gruppierungen, es fehle an Konzepten zur Durchsetzung von tatsächlicher Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, es fehle aber vielerorts auch an konsensfähigen Konzepten für eine Trennung zwischen Staat und Religion. Frauen-, Freiheits- und Menschenrechte, Religionsfreiheit mit der Möglichkeit, auch den Islam verlassen und sich einer anderen Religion zuwenden zu können sowie Foren der freien Meinungsäußerung im öffentlichen Raum seien auch nach dem Arabischen Frühling größtenteils Desiderate im Nahen Osten geblieben. Das alles bilde den Untergrund für religiöse Radikalismen, für Abwanderung oder die öffentliche gewaltsame Entladung von Protesten.

Die Vorlesung beleuchtete als Begründung dieser Sichtweise gesellschaftliche und politische Entwicklungen ab etwa 1900 in der Region des Nahen Osten und untersuchte die Gründe für das Scheitern des Arabischen Frühlings und die Entfesselung von Kräften, die in der Gründung des sogenannten „Islamischen Staates“ mündeten.

Die Umbrüche des „Arabischen Frühlings“ ab 2010 weckten – so die Rednerin – in der MENA-Region zunächst große Hoffnungen auf eine Erweiterung eingeschränkter Menschen-, Frauen- und Freiheitsrechte sowie auf eine Demokratisierung der politischen Systeme, die sich vielerorts nicht erfüllten, ja in einigen Staaten des Nahen Ostens mittlerweile in Chaos und Anarchie mündeten. Die Umbrüche offenbarten ungute politische wie gesellschaftliche Entwicklungen, die sich in einer konstanten Abwärtsbewegung mindestens für die vergangenen 100 Jahre deutlich nachzeichnen lassen sowie intensive innerstaatliche und innerkonfessionelle Spannungen, deren Ursachen bis zur Entstehung des Islam zurückreichen. Und schließlich offenbarten sie auch das heute weithin erkennbare Fehlen einer konsensfähigen politischen Vorstellung eines Gemeinwesens als Alternative zu den autokratischen Regimen, die sich mit dem Werden der Nationalstaaten nach dem 2. Weltkrieg etabliert hatten.

 

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