Bonner Querschnitte 58/2016 Ausgabe 453

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Muslime auf der Suche nach Identität: Schirrmacher beim 14. Mannheimer Ethik-Symposium

(Bonn, 03.12.2016) Beim 14. Mannheimer Ethik-Symposium zum Thema „Identität – Identitätssuche in einer sich wandelnden Welt“ sprach Christine Schirrmacher über die offene Frage der Identität innerhalb der europäischen Gesellschaften, die etwa daran sichtbar würde, dass sich die 28 Mitgliedsstaaten bei der Formulierung der gescheiterten europäischen Verfassung nicht bezüglich eines Gottesbezuges in der Präambel hätten auf irgendeine Formulierung einigen können. Das Verhältnis zwischen der christlich geprägten Geschichte des Kontinents und einer säkularen Staatsordnung mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sei für die Identität Europas zentral – hänge doch beides eng zusammen –, aber zugleich ein wesentlicher Grund der Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Identität.

Diese in Europa sehr unterschiedlich beantwortete Identitätsfrage werde durch die derzeitigen Flucht- und Zuwanderungsbewegungen nachdrücklicher gestellt. Aber auch in Teilen der muslimischen Gemeinschaft in Europa sei die Frage der Identität nach einer lange unter falschen Voraussetzungen geführten „Gastarbeiterdiskussion“ ungeklärt, da etwa insbesondere die dritte Generation nicht durch eigenen Entschluss in Deutschland lebe und ein Teil dieser Enkelgeneration der ersten Zuwanderer den Aufstieg im Bildungs- und Berufsleben nicht bewältigt habe. Wenn dann verschiedene weitere begünstigende Faktoren hinzukämen, könnten die Antworten einer extremistischen Gruppe ein Platzhalter für die unbeantwortete Frage der Identität werden.

Auszug aus dem Bericht des Deutschlandfunks von Cajo Kutzbach

 

Suche nach einer Gemeinschaft, die einen warm aufnimmt

Bei Menschen, die zum Kämpfen in den Nahen Osten fuhren, fand man häufig, dass sie genauso gut – bei entsprechender Gelegenheit – Rechts- oder Linksradikale hätten werden können. Christine Schirrmacher, Professorin für Islamwissenschaften der Universität Bonn:

„Was viele Menschen offensichtlich – nach dem, was wir aus Biografien entnehmen können – verwundbar macht, ist eine Suche. Eine Suche nach Ankommen in einer Identität, über die man nicht verfügt. Also, das kann sich ausdrücken in einer Suche nach einer Gemeinschaft, die einen warm aufnimmt, freundlich aufnimmt, die einem ein geschlossenes Weltbild vermittelt, in dem man selbst eine Aufgabe hat.“

Das sind genau die Schwierigkeiten jedes jungen Menschen, der seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Es betrifft aber auch Menschen, die durch Schicksalsschläge entwurzelt und in ihrer Identität verletzt wurden, etwa durch Krieg und Vertreibung. Neben der persönlichen Identität gibt es die Identitäten von Gruppen, etwa deren gemeinsame Kultur.

Man kann daher den Zulauf zum politischen Islam auch als Ergebnis einer Identitätskrise verstehen. Auch Rückfälle in nationalistische Strömungen lassen sich oft als Krise der Identität von Gemeinschaften verstehen. Etwa, wenn frühere Ostblockstaaten und Sowjetrepubliken zunächst einmal in nationalistischen Formen nach ihren Identitäten suchen.

„Das sehe ich in Teilen von Osteuropa durchaus hochkommen oder neue Gestalt gewinnen, dass man eigentlich nationalistisches Gedankengut mit radikalisierenden Bewegungen vermischt. Und da ist natürlich die Frage: Wer sind wir? Wer möchte von uns Macht ergreifen, wer möchte, hat auf uns Zugriff? Wer bestimmt unsere Identität? Und dann versteift man sich auf ein Nationenverständnis, was ja wissenschaftlich nur sehr schwer zu belegen ist.“

 

Identität reift, wenn man dem Anderen begegnet

Wenn nun Menschen mit ihren durch Krieg oder Not verletzten Identitäten nach Europa fliehen, dann stellt das die Gruppenidentitäten von Regionen oder von Europa in Frage – und damit auch die Identitäten der einzelnen Menschen. Christine Schirrmacher sieht darin eine wertvolle Anregung, sich darum zu kümmern, wer wir in einer sich wandelnden Welt sein wollen:

„Wie können wir die gemeinsame Zukunft positiv gestalten, um nicht einer Vergangenheit nachzutrauern, die ja häufig heiler und goldener aussieht im Rückblick und so oft ja gar nicht gewesen ist?“

Wer sich mehr um die eigene Identität kümmert und sie stärkt, wird sowohl als Einzelner gesünder sein, als auch in der Gruppe Geborgenheit erleben und geben können. Aus dieser Geborgenheit heraus kann man dann offener, toleranter und hilfsbereiter werden, weil die Angst abnimmt, dabei selbst zu kurz zu kommen. Identität reift, wenn man dem Anderen begegnet, meint Christine Schirrmacher:

„Bildung und Kultur und interkulturelle Begegnung und den Umgang mit dem ‚Anderen‘ pflegen, vertiefen und Vieles entdecken dabei, was man auf den ersten Augenschein nicht erwartet hätte.“

 

Quelle: Opens external link in new windowhttp://www.deutschlandfunk.de/14-mannheimer-ethiksymposium-suche-nach-identitaet-in-einer.1148.de.html?dram:article_id=368477

 

 

Downloads und Links:

·        Initiates file downloadFoto: Christine Schirrmacher während des Vortrags (© Institut für medizinische Ethik, Grundlagen und Methoden der Psychotherapie und Gesundheitskultur (IEPG), Mannheim)

·        Originalton Schirrmacher in ARD ab 3:30: Opens external link in new windowhttp://www.ardmediathek.de/radio/Aus-Kultur-und-Sozialwissenschaften-D/14-Mannheimer-Ethiksymposium-Suche-na/Deutschlandfunk/Audio-Podcast?bcastId=35328104&documentId=38303146

·        Programm: Opens external link in new windowhttp://www.institut-iepg.de/index.php?article_id=26&clang=0
Opens external link in new windowhttp://www.euro-acad.eu/downloads/events/14._Mannheimer_Ethiksymposium_-_Programm.pdf
Opens external link in new windowhttp://www.euro-acad.eu/activities/events/325

Dokumente

BQ453.pdf