Bonner Querschnitte 06/2010 Ausgabe 128

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Die Wirklichkeit zu ihrem Recht kommen lassen

Symposium zu philosophischen Grundlagen einer christlich-wissenschaftlichen Psychologie

Das erste Schweizer Symposium des Martin Bucer Seminars war den philosophischen Grundlagen einer christlich-wissenschaftlichen Psychologie gewidmet. Es gab den Anstoss zu einer vertieften Auseinandersetzung mit einem wenig bekannten dafür umso faszinierenden holländischen Denker.

(Zürich, Bonn, 26.02.2010) Inhalt des Symposiums waren die Forschungsergebnisse des reformierten holländischen Philosophen Herman Dooyeweerd (1894–1977). Professor Gianfranco Schultz von der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel (CH) führte in die Grundlagen Dooyeweerds ein. Dooyeweerd erforschte in umfangreichen Untersuchungen die Strukturen der Wirklichkeit. Er sieht die Wirklichkeit in eigengesetzliche Sphären aufgeteilt, zu denen zum Beispiel die physikalische, die biotische, die psychische, die analytische, die soziale, die wirtschaftliche oder die ästhetische gehören.

Die Absicht dieser Erforschung der Wirklichkeitsstrukturen ist es, jedes Ding zu seinem Recht kommen zu lassen. Darum sei es laut Dooyeweerd Aufgabe der Wissenschaften die Normativitäten der Wirklichkeit zu erschliessen. Dabei sei jede Einzelwissenschaft in ihrem eigenen Forschungsbereich souverän; denn auch hier gelte: die Forschung zu ihrem eigenen Recht und der damit verbundenen Verantwortung kommen zu lassen. Die den Forschungsbereichen eigentümlichen Gesetze scheiden die wissenschaftlichen Fachrichtungen voneinander.

Dooyeweerds Denken gründet in der Ansicht, dass alles Existierende von Gott erschaffen wurde. Damit bekommt jedes Ding eine ihm mitgegebene Würde, Gesetzmässigkeit und vielgestaltige Entfaltungsmöglichkeiten. Diese gelte es zu erschliessen. Die Entfaltungsmöglichkeiten liegen entlang der schöpfungsmässigen Strukturen der Dinge. Sie zu erschliessen ist gleichsam Gottesdienst.

Zudem ist Dooyeweerd als reformierter Philosoph der Meinung, dass die Ausrichtung des menschlichen Herzens die Erkenntnisinteressen steuert. Darum sei dem religiösen Grundmotiv des Herzens auch in der Wissenschaft Beachtung zu schenken, da eine innere Entfremdung von Gott auch die Wahrnehmung der von ihm geschaffenen Wirklichkeit verzerrt.

Professor Gerrit Glas von der Freien Universität Amsterdam (NL) stellte in seinen Vorträgen heraus, dass Dooyeweerd für die Psychologie sehr fruchtbar gemacht werden kann. Der renommierte Psychiater und Philosoph demonstrierte anhand vieler Fallbeispiele aus seiner Forschungsarbeit, dass der Dooyeweerdsche Ansatz es ermöglicht, die Komplexität der Menschen sehr angemessen zu erforschen. Hier bewährt sich insbesondere die Lehre von der „Souveränität im eigenen Kreis“, sagte Glas. Demnach ist die Wirklichkeit durch Bereiche strukturiert, in denen jeweils eigene Gesetzmässigkeiten gelten. So können etwa die Gesetze der Biologie nicht einfach auf die Psychologie übertragen werden oder umgekehrt. Denn während die Biologie das Biotische studiert, beschäftigt sich die Psychologie mit dem Psychischen. In beiden Sphären gelten unterschiedliche Gesetzmässigkeiten. Im Menschen, dem komplexesten Wesen der Schöpfung, treffen alle Sphären zusammen und sollen zu ihrem Recht kommen. Dadurch kommt auch der Menschen selbst zu seinem Recht. Gerade für die Psychiatrie sei das Verständnis für die eigengesetzlichen Sphären und ihre Wechselwirkung von enormer Bedeutung.

Dooyeweerd hat, um die Wirklichkeit zu beschreiben, eine Fülle von Begriffen zum Teil in einer ihm eigentümlichen Weise verwendet, was sich dem Verständnis anfänglich in den Weg stellt. Die Komplexität seines Denkens wird nur noch von der Komplexität und Faszination der Wirklichkeit übertroffen, die er bestrebt war umfassend und wirklichkeitsgetreu zu erschliessen. Das Symposium gab den Anstoss zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Herman Dooyeweerd.

 

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