Bonner Querschnitte 11/2010 Ausgabe 133

Zurück

Staatsanwaltschaft fordert im Malatya-Mord-Prozess drei Mal lebenslänglich für jeden Angeklagten

Lage der Christen in der Türkei auch drei Jahre nach dem Mord an drei Christen angespannt

(Bonn, 09.04.2010) Am 24. Prozesstag (19. Februar 2010) forderte die Staatsanwaltschaft im Prozess um die Ermordung von Necati Aydin, Ugur Yüksel und Tilmann Geske drei Mal lebenslange Haft ohne Bewährung für jeden der fünf Angeklagten. Die drei Opfer, zwei türkische und ein deutscher Christ, waren am 18. April 2007 brutal von fünf jungen Männern in Malatya, einer südosttürkischen Stadt, ermordet worden. Wie der christliche Informationsdienst Compass Direct weiter mitteilt, würden sowohl die Richter als auch die Staatsanwälte sehr darauf drängen, den jetzt fast drei Jahre währenden Prozess zu Ende zu bringen.

Der Staatsanwalt, der das Ergenekon-Verfahren in Istanbul führt, habe einen Polizei-Bericht an das Gericht in Malatya geschickt, in dem die fünf Angeklagten mit einer größeren Operation des „tiefen Staates“ in Verbindung gebracht werden. Seit Oktober 2008 wird gegen Dutzende Mitglieder von Ergenekon der Prozess geführt. Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft stuft diese Organisation als terroristische Vereinigung ein. Ihr wird vorgeworfen, für viele politische Attentate verantwortlich zu sein, vor allem aber einen Putsch gegen die Regierung von Ministerpräsident Erdogan geplant zu haben. Unter den Angeklagten sind pensionierte hohe Militärs, Professoren, Journalisten, Rechtsanwälte und Politiker.

Der Richter in Malatya lehnte allerdings eine weitere Untersuchung möglicher Verbindungen zwischen den fünf Angeklagten und Ergenekon ab, obwohl es nach Ansicht der Vertreter der Nebenklage viele Indizien dafür gäbe. So seien die Morde von Malatya Teil einer Serie von Anschlägen gegen die christliche Minderheit, die alle auf das Konto dieser Vereinigung gingen. Dies gelte nicht nur für die Morde an dem katholischen Priester Andreas Santoro (Februar 2006, Trabzon) und dem armenischen Publizisten Hrant Dink (Januar 2007, Istanbul), sondern auch für die Entführung eines syrisch-orthodoxen Priesters, eine schwere Messerattacke gegen einen Priester in Izmir, schwere Bedrohungen gegen einen protestantischen Pastor in Samsun – alles Vorfälle der letzten Jahre. Sollte der Istanbuler Staatsanwalt bis zum Ende des Malatya-Prozesses keinen Plan vorgelegt haben, um diesen Hinweisen im Istanbuler Ergenekon-Verfahren nachzugehen, würden sich die Nebenkläger vorbehalten, den Prozess vor das oberste Berufungsgericht zu bringen, so Erdal Dogan, ein Vertreter der Nebenklage.

Susanne Geske, eine der Witwen, findet es „schade, dass nur die fünf verurteilt werden und die Hintermänner auf freiem Fuß bleiben.“ Sie befürchtet, dass sich letztere einfach neue Leute suchen könnten, um Ähnliches zu verüben.
Die Nebenklage und die Verteidiger werden am 15. April, dem nächsten Prozesstag, ihre Plädoyers halten, sodass Einschätzungen türkischer Quellen zufolge möglicherweise schon am 16. April das Urteil verkündet werden könnte.

 

Die kleine protestantische Gemeinde in Malatya hat in den letzten drei Jahren eine schwere Zeit gehabt. Einige Mitarbeiter haben die Stadt verlassen, manche einheimischen Gläubige trauten sich nicht mehr, in die Gemeinde zu kommen. Familie Geske ist wie damals angekündigt in der Stadt geblieben. Im Laufe der Zeit sind aber auch neue Mitarbeiter dazugekommen. Und im letzten Jahr sind auch einige Einheimische zum Glauben gekommen und gehen jetzt gemeinsam mit der Gemeinde den Weg mit Jesus.

An Karfreitag gab es gerade einen „Jesu-Kreuzigung-Gedächtnis-Gottesdienst“. Und am Ostersonntag haben die Christen wieder vor Ort zum Gottesdienst eingeladen, und Gäste aus anderen Gemeinden kamen hinzu, um die Gemeinde zu ermutigen.

 

Aus Anlass des dritten Jahrestages der Morde von Malatya am 18. April hat die Allianz der Protestantischen Gemeinden in der Türkei zu einem „Weltweiten Gebetstag für die Türkei“ aufgerufen. Da der 18. April dieses Jahr auf einen Sonntag fällt, werden Gemeinden überall auf der Welt ermutigt, einige Minuten der Gebetszeit in ihren Gottesdiensten dazu zu verwenden, gemeinsam mit Millionen von Christen die Türkei und ihre Kirche vor den Thron Gottes zu bringen, so Pastor Zekai Tanyar (Izmir), derzeit Vorsitzender der Vereinigung Protestantischer Kirchen in einem eMail.

Als Hilfe dafür gibt es ein kurzes, 4-minütiges Video sowie einen Gebetsbrief (beides in verschiedenen Sprachen, darunter auch in deutscher Übersetzung) unter Opens external link in new windowwww.prayforturkey.com/letter-german.html.

 

Dass die Lage der Christen und Gemeinden in der Türkei insgesamt nach wie vor nicht einfach ist, macht nicht zuletzt der aktuelle „Bericht über Menschenrechtsverletzungen in 2009“ der Vereinigung Protestantischer Kirchen deutlich. Dieser Ende Januar 2010 veröffentliche Bericht stellt sachlich, aber deutlich die aktuellen Probleme zusammen, unter denen die Christen im vergangenen Jahr zu leiden hatten. Dieser Report nennt aber, wo möglich, auch positive Entwicklungen. So sei z.B. diffamierende und falsche Berichterstattung in den Medien im Jahr 2009 weniger geworden. In 2010 hat sich dieser Trend fortgesetzt, wie ein Mitarbeiter des Martin Bucer Seminars in der Türkei BQ gegenüber bestätigte. So habe es zuletzt erst zwei Fernsehsendungen über geistliche Themen gegeben, zu denen Carlos Madrigal, ein seit vielen Jahren in Istanbul lebender spanischer protestantischer Pastor eingeladen worden sei – und das jedes Mal in der Absicht, sachliche Informationen weiterzugeben.

Leider überwiegen aber nach wie vor die Probleme, die nicht zuletzt deshalb entstehen, weil die örtlichen Behörden und die Polizei oft genug keine wirklich solide Kenntnis von der aktuellen Gesetzeslage der Türkei haben und deshalb vieles für verboten halten, was nach Recht und Gesetz der Türkei nicht (mehr) verboten ist – Beispiele finden sich dafür in dem genannten Report. Auch dieses Problem scheint sich in 2010 fortzusetzen. So wurde erst vor wenigen Wochen David Byle, ein seit vielen Jahren in der Türkei lebender amerikanischer Christ, in Istanbul zum wiederholten Male festgenommen und über eine Woche in Abschiebehaft festgehalten. Byle ist seit Jahren maßgeblich an der Straßenevangelisation in Istanbul beteiligt. Evangelische Christen gehen davon aus, dass sein Engagement in der christlichen Verkündigung den Hintergrund von Verhaftung und Abschiebedrohung darstellt. David Byles Anwalt erreichte vor Gericht eine einstweilige Verfügung gegen die Abschiebung, die zur vorläufigen Freilassung des Amerikaners führte. Der Prozess dauert an.

Vor dem Gerichtshof in Silivri/Istanbul läuft seit November 2006 ein äußerst umstrittenes Gerichtsverfahren gegen die zwei türkischen Christen Hakan Tastan und Turan Topal wegen Vorwürfen im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in der christlichen Evangelisation. Obwohl bisher kein Zeuge die von der Polizei erhobenen Vorwürfe auch vor Gericht bestätigt hat, wird der Prozess fortgeführt. Der zuerst den Fall bearbeitende Staatsanwalt Demirhüyük hatte schon im Juli 2007 darauf hingewiesen, dass evangelistische Tätigkeit unter die von der türkischen Verfassung garantierte Religionsfreiheit falle und die Einstellung des Verfahrens angeregt. Der Fall war daraufhin von ihm genommen und einem anderen Staatsanwalt übertragen worden.

 

Links:

Downloads:

  • Gebetsbrief der Allianz der Protestantischen Gemeinden in der Türkei aus Anlass des Weltweiten Gebetstages für die Türkei am 18. April (als Initiates file downloaddoc)
  • Bericht über Menschenrechtsverletzungen in 2009. Erstellt von der Vereinigung Protestantischer Kirchen – Komitee für Religionsfreiheit und Rechtsfragen. 30. Januar 2010 (als Initiates file downloadpdf)

Dokumente

BQ0133_01.pdf