Bonner Querschnitte 17/2012 Ausgabe 211

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Verlag für Kultur und Wissenschaft veröffentlicht umfangreiche Forschungsarbeit zum mittelalterlichen Baltikum

(Bonn, 02.07.2012) In der dreibändigen Gießener Dissertation Die Formierung der mittelalterlichen Kirche Livlands. Strukturen, Träger und Inhalte der kirchlichen Nacharbeit (13.–16. Jahrhundert) der Historikerin Christina v. Torklus geht es um den Aufbau einer kirchlichen Infrastruktur in den Jahrhunderten nach der Erstchristianisierung der baltischen und finno-ugrischen Völker in Teilen des Baltikums.

Dazu gehörte die im ersten Band abgehandelte Etablierung der einzelnen Bistümer beziehungsweise der Rigaer Kirchenprovinz ebenso wie die Verbreitung von Pfarrkirchen beziehungsweise Kirchspielen. Außer der Struktur und den Gebäuden waren die Geistlichen beziehungsweise die sich etablierenden Orden ein wichtiger Faktor, Livland nicht nur formal in die Westkirche zu integrieren.

Der zweite Band wendet sich verschiedenen Aspekten zu, die im Zusammenhang mit der zu unterweisenden Bevölkerung Livlands stehen. So wird versucht, inhaltliche Schwerpunktsetzungen der Unterweisung festzustellen, mit der die durchaus nicht einheitlich kategorisierbare Bevölkerung Livlands kirchlich erreicht werden sollte. Der Frage, wo – gewissermaßen als Ergebnis – Frömmigkeit der Laien in den Quellen greifbar wird und wo Schwierigkeiten auftraten, gilt ein weiteres Hauptkapitel. Neben den Verzeichnissen der Quellen, Literatur und kartographischen Darstellungen usw. besteht der dritte Band vornehmlich aus dem Kapitel Sakralgebäude des mittelalterlichen Livland von A–Z, in welchem schwerpunktmäßig livländische Kirchen bzw. Kapellen aus dem Mittelalter dargestellt werden. In einer Kartenskizze sind u. a. die bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert nachweisbaren Pfarrkirchen verzeichnet.

Bibliografische Angaben:

·         Christina v. Torklus. Die Formierung der mittelalterlichen Kirche Livlands: Strukturen, Träger und Inhalte der kirchlichen Nacharbeit (13.-16. Jahrhundert). Geschichte – Kirchengeschichte – Reformation (ISSN 1612-2135), Band 25. Verlag für Kultur und Wissenschaft: Bonn, 2012. 3 Bände. zus. 1715 S. Pb. 176.00 €. ISBN 978-3-86269-030-5

·         Das Buch kann im örtlichen Buchhandel oder online unter Opens external link in new windowwww.vkwonline.de bezogen werden.

 

Klappentext/Kurztext:

Das mittelalterliche Livland wurde vor allem im 13. Jahrhundert auf etwa der Fläche der heutigen Staaten Est- und Lettland etabliert. Was geschah dort mit den zeitgleich erstchristianisierten baltischen und finno-ugrischen Völkern? Wie wurde dort Kirche formiert? Welche Kräfte trugen im weitesten Sinn zur kirchlichen Nacharbeit bei? Und wer bzw. was waren ihre Ziele? Wo lagen Schwerpunkte? – Antworten auf solche und ähnliche Fragen werden im ersten Teil dieser Arbeit dargestellt. Vorwiegend als Belegmaterial für noch nachweisbare Sakralbauten im mittelalterlichen Livland dient der zweite Teil. Er enthält eine umfangreiche Sammlung an Daten und Wissenswertem zu den einzelnen Lokalitäten kirchlicher Raumerfassung. Die Angaben zum Stand der sogenannten Einkirchung des mittelalterlichen Livlands werden damit überprüfbar gemacht und weiteren Forschungen der Boden geebnet.

 

Im Folgenden bieten wir Ihnen ein Interview mit der Autorin zur Wiedergabe an:

 

Bonner Querschnitte: Frau v. Torklus, in Ihrer Dissertation „Die Formierung der mittelalterlichen Kirche Livlands“ geht es um Livland. Heute heißt kein Land mehr so. Wo lag denn das mittelalterliche Livland?

Dr. Christina v. Torklus: Es handelt sich hier um das Livland aus der Zeit der sog. Livländischen Selbstständigkeit, die in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts endete. Es umreißt ungefähr das Gebiet der heutigen baltischen Staaten Estland und Lettland, auch wenn eine solche Zuordnung mitunter an ihre Grenzen kommt. Insgesamt umfassten die (Erz)Bistümer Kurland, Riga, Dorpat, Oesel-Wiek und Reval eine geschätzte Fläche von 109.000 km². Mit Ausnahme des Bistums Reval, das formal der Kirchenprovinz Lund angegliedert war, gehörten sie zur Kirchenprovinz Riga. In manchen Gebietsteilen hatte der Deutsche Orden die weltliche Oberherrschaft.

 

Wann setzten die Bemühungen um die Christianisierung der baltischen und finno-ugrischen Völker ein?

Einige Nachbarn der baltischen und finno-ugrischen Völker wurden vor diesen christianisiert. Im Osten nach dem Ritus der orthodoxen Kirche und im Norden nach dem der Westkirche. Nicht zuletzt die Handelsbeziehungen förderten den interkulturellen Kontakt der Nachbarn untereinander, bei dem natürlich auch christliche Symbole aus dem Osten – wie das als Schmuckstück gestaltete Kreuz – ihren Weg in das bis dahin noch völlig heidnische Gebiet fanden. Es lässt sich allerdings kaum mehr beurteilen, ob wirklich gleichzeitig christliche Glaubensinhalte transportiert wurden. Zu einer breitflächigeren Etablierung der Ostkirche haben die frühen Berührungspunkte auf jeden Fall nicht geführt. Im 12. Jahrhundert waren es Skandinavier, also Vertreter der Westkirche, die Vorstöße zur Christianisierung der ostsüdöstlichen Ostseeanrainer unternahmen. Die Bemühungen von deutscher Seite, Kirche in Livland zu formieren, setzten im ausgehenden 12. Jahrhundert ein.

 

Nach der vornehmlich durch Taufen vorgenommenen Erstchristianisierung scheint es vordringliches Ziel gewesen zu sein, in Livland eine westkirchliche Struktur aufzubauen. Die Pfarrkirchen sind für die lokale kirchliche Nacharbeit besonders interessant. Was lässt sich rückblickend über die Umsetzung des Mammutprojekts „Kirchenbau“ sagen?

In Livland geschah die Gründung von Pfarrsprengeln natürlich zunächst nur punktuell, dann sich allmählich ausbreitend. Zusätzlich werden Provisorien hier und da immer mehr durch endgültigere Bauten ersetzt worden sein. Jedoch sind im Rahmen dieser sogenannten kirchlichen Raumerfassung stiefmütterlich behandelte Gebietsteile erkennbar. Im Kapitel Sakralgebäude des mittelalterlichen Livland von A–Z in Band 3 befinden sich die gesammelten Belege für noch nachweisbare mittelalterliche Kirchen beziehungsweise Kapellen. Die in der älteren Forschung bisher für das (ausgehende) Mittelalter genannte Anzahl von ungefähr 180 städtischen und ländlichen Kirchspielen erscheint auf der Basis dieser Datensammlung etwas zu optimistisch.

 

Kirchengebäude allein bewerkstelligen noch keine kirchliche Nacharbeit. Welche Gruppen von Geistlichen oder überhaupt welche Orden haben sich in Livland niedergelassen?

Neben der sog. Weltgeistlichkeit und den regulierten Kanonikern (zum Beispiel Augustiner-Chorherren und Prämonstratenser) haben sich in Livland im Verlauf der abgehandelten Jahrhunderte der Deutsche Orden, der Zisterzienserorden, die Bettel­orden (vor allem Dominikaner und Franziskaner inklusive der Terziaren-Bewegung) sowie der Birgittenorden phasenweise oder dauerhafter etablieren können. Die hier in einem Satz aufgezählten Orden waren allerdings keineswegs einheitlich, sondern von verschiedenen Ausrichtungen geprägt und im Laufe der Zeit Wandlungen unterworfen. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass nicht alle Ordensmitglieder Inhaber einer kirchlich-geistlichen Weihe waren, manche galten weiterhin als Laien.

 

Wo findet man im Mittelalter Informationen dazu, was Schwerpunkte kirchlicher Unterweisung war, d. h. was sind die Hauptquellen?

Für diese Thematik kann man vor allem auf die Statuten der Partikularsynoden der Rigaer Kirchenprovinz von 1428 und 1437 sowie auf den Rezess des Livländischen Landtags von 1422 zurückgreifen. Wo es die Quellensituation zulässt, sind neben den spätmittelalterlichen Quellen natürlich jeweils auch ältere Dokumente hinzugezogen worden. So wird beispielsweise der Versuch, die Etablierung einer neuen Rechtskultur auch hinsichtlich des stark im Alltag verankerten Ehe-Themas herbeizuführen, zusätzlich auf der Basis von livländischen Quellen aus dem 13. Jahrhundert beleuchtet.

 

Sprachenvielfalt scheint auch ein Thema in Livland gewesen zu sein. Waren die dort arbeitenden Geistlichen alle Sprachgenies?

Nein, Sprachgenies waren sie bestimmt nicht alle. Sonst müsste im 15. Jahrhundert nicht mehr angemahnt werden, dass der Pfarrpriester oder zumindest ein Hilfsgeistlicher die Sprache der Eingepfarrten sprechen können müsse. Und in der Tat, um die einzelnen Menschen zu erreichen, braucht es die Fähigkeit, die lokalen Sprachen zu beherrschen. Das vielsprachige Livland war auch in dieser Hinsicht ein herausforderndes Terrain. Neben Vertretern finno-ugrischer und baltischer Sprachen gehörten zu den Pfarrsprengeln hier und da auch Vertreter germanischer (inkl. skandinavischer) Sprachen. Sollte ein Geistlicher seine Ansprache nicht in der Kirchensprache Latein gehalten haben, so stellt sich durchaus die Frage, welcher Sprache er sich in seiner lokalen livländischen Kirche bedient hat je bunter sie gemischt war.

 

Lehrkonforme Vermittlung des kirchlichen Glaubens gab es in Livland sicherlich. Wie aber ist das mit Lehrmeinungen, die sich nicht mit der Lehre der mittelalterlichen Kirche in Übereinstimmung bringen ließen?

Der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch in Livland wirkende Johannes Hilten wird ausführlicher thematisiert. Wohl seine theologischen Äußerungen, aber auf jeden Fall sein Verhalten und die seinerzeitige machtpolitische Situation, brachten ihn in Schwierigkeiten. – Ein ganz anderes Kapitel sind dann die illegitimen Formen der Frömmigkeit, die sich beispielsweise in heidnischen oder abergläubischen Lebens- oder Religionselementen äußern, von denen vor allem im 15. und 16. Jahrhundert wieder verstärkt berichtet wird.

 

Vielen Dank für das Interview!

 

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