Bonner Querschnitte 24/2013 Ausgabe 259b

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Zwangsprostitution vernachlässigbar?

Ein Kommentar zur Berichterstattung des Norddeutschen Rundfunks zum Tag des Menschenhandels in Hamburg

(Bonn, 18.06.2013) Heftige Kritik am „Tag gegen Menschenhandel“ während des Kirchentages (siehe dazu den Bericht von Ingeborg Laabs in Bonner Querschnitte 285a, Nr. 23/2013) übte der Norddeutsche Rundfunk. Man hatte die Berichterstattung vorher mit dem „Sexworker“-Forum und Ver.di abgesprochen. Hauptkritikpunkt war, dass Thomas Schirrmacher evangelikal und die Mitarbeiterin von Solwodi katholisch seien. Schirrmacher wird wegen seinem „Annäherungsversuch an Alice Schwarzer und Emma-Positionen“ kritisiert. Die feministische Bewegung ist in der Frage der Prostitution/Zwangsprostitution gespalten.

Nach „Undine“, die der NDR vor allem interviewte, gibt es Zwangsprostitution in Deutschland praktisch nicht, höchstens im „Promille-Bereich“, das Thema diene nur der Verunglimpfung von Prostituierten.

Hier ein Kommentar dazu von Thomas Schirrmacher:

Der Norddeutsche Rundfunk hat heftige Kritik an unserem „Tag gegen Menschenhandel“ während des Kirchentages geübt. Die negative Berichterstattung war vorher bereits mit dem „Sexworker“-Forum und Ver.di abgesprochen, wie man im Web beim Forum nachlesen konnte. Verschwiegen wird in der Berichterstattung, dass wir bewusst kein einziges Mal auf Prostitution ohne Zwang eingingen. Der NDR wollte mich im Interview förmlich zwingen, meine Meinung zur Prostitution zu sagen. Doch was interessiert es Sklavinnen, dass ich glücklich verheiratet bin, nicht zu einer Prostituierten gehen würde (muss man sich dafür neuerdings entschuldigen?) und als Christ froh bin, in einem freien Land nach meinem Glauben leben zu dürfen? Hätte der NDR doch die Sendezeit genutzt, die anwesenden Ex-Zwangsprostituierten zu interviewen!

Mehrfach forderte ich alle Anwesenden auf, dass alle Menschen guten Willens gemeinsam gegen Sklaverei und Zwangsprostitution vorgehen und Betroffenen helfen sollten. Habe man ihnen die Freiheit zurückgegeben, könne man dann ja über sämtliche strittigen sexualethischen Themen wie Prostitution oder Kondome diskutieren. Wir können nicht warten, bis wir uns zu allerlei Fragen der Sexualethik geeinigt haben und bestenfalls Jahre später helfen. Alle Menschen guten Willens müssten doch Zwangsprostitution verurteilen, Opfer instinktiv helfen und die Behörden dabei unterstützen, Fälle von Sklaverei aufzudecken und zu beenden.

Verschwiegen wurde auch, dass bei unseren Veranstaltungen Betroffene live berichteten. Eine Studentin geriet in Haushaltssklaverei, ein Mädchen wurde von ihrem Vater in die Zwangsprostitution verkauft. Alles erlogen? Weil Lobbyisten sagen, so etwas gebe es in Deutschland nicht? Nur einige solcher Fälle in Deutschland müssten schon unsere Empörung und Hilfe auslösen.

Der NDR meint, mich schon abschließend verurteilt und als Experte unmöglich gemacht zu haben, so dass gar nicht mehr berichtet werden muss, was ich eigentlich gesagt habe, indem ich „als Vertreter des Dachverbandes der Evangelikalen” geoutet werde. Tja, so ist das, dass der ‚böse Feind‘ manchmal Gutes tut. Der amerikanische Präsident Barack Obama hat in einer faszinierenden Rede gegen Menschenhandel jedenfalls jüngst auch ausdrücklich den Evangelikalen für ihren enormen Einsatz gegen Menschenhandel gedankt. Ist das alles, was ja ein auch von evangelikalen Bürgern zwangsfinanziertes staatliche Medium kann, Menschen, die helfen, zu verunglimpfen, weil sie in einigen Fragen anders denken, als vom NDR erlaubt? Wäre es nicht eher Sache des NDR, die Bürger über das aufzuklären, was sie noch nicht wissen, dass nämlich Sklaverei mitten in Deutschland stattfindet?

Die Bild-Zeitung titelte kürzlich, Deutschland sei das Bordell Europas. „Der Spiegel“ bringt eine Nummer „Bordell Deutschland“ heraus. Beide kritisieren nicht nur Zwangsprostitution, sondern den laschen Umgang mit Prostitution überhaupt, wie der Spiegel-Untertitel deutlich macht: „Wie der Staat Frauenhandel und Prostitution fördert“. Das staatliche Medium NDR dagegen unterschlägt die erdrückenden Fakten, die die privaten Medien schonungslos offen auf den Tisch legen. Doch zurück zur NDR-Berichterstattung.

„Undine“ sagt auf der NDR-Webseite: „Die Zahl der tatsächlichen Opfer liegt im Promille-Bereich. Natürlich muss denen geholfen werden, das ist ganz klar, aber nicht auf Kosten der großen Masse der Sexarbeiterinnen ...“

Niemand hilft Zwangsprostituierten „auf Kosten“ der Prostituierten. Und „Promille“? Mal angenommen, das wäre tatsächlich in Deutschland so, dann müsste man sich immer noch für die Lage der Sklaven und Sklavinnen in Thailand oder sonst auf der Welt einsetzen, wo Zwangsprostitution epidemisch ist. Und dann: in Deutschland „Promille“? Welche Untersuchung soll das denn belegt haben? Experten schätzen den Anteil der Zwangsprostituierten an den Prostituierten sehr unterschiedlich von einem Drittel bis zum Hamburger Polizeipräsidenten mit 90%. Aber weniger als 1%? Und UN, EU, Europarat, Europol, aber ebenso Forscher und Forscherinnen, Feministinnen und Moralapostel, alle übertreiben um wenigstens das 300fache? „Promille“, das wären ja weniger, als jährlich an Zwangsprostituierten von der Polizei befreit oder von Frauenhäusern/Scheltern aufgenommen werden! Und solch einen Unsinn verbreitet der NDR?!

Undine weiter: „Da schürt ein Kontrollbedürfnis einen zusätzlichen Kontrollbedarf. Das kann einfach nicht sein. Wir werden massiv in unserer Arbeit behindert und das hilft uns sicher nicht.“

Hier muss man wirklich die Polizei gegen den NDR in Schutz nehmen. Wir haben Wirtschaftszweige mit einer viel engmaschigeren Kontrolle. Schwarzarbeit wird bekämpft, Sozialversicherungsbetrug, aber auch geschaut, ob wenigstens zwei Toiletten vorhanden sind, die Restaurantküche penibel sauber ist, Kaffeemaschinen stündlich gereinigt werden. Das alles hilft natürlich nie den Unschuldigen und Guten, ist aber notwendig, um die Gesetzesübertreter ausfindig zu machen. Wenn das Ordnungsamt Frittenbuden überprüft, „behindert“ das sicher auch die „Arbeit“ und hilft dem Verkäufer nicht, aber es hilft den Kunden und es hilft den Opfern, hier dem, der Sonst Salmonellen bekommt, dort dem, der zur Prostitution gezwungen wird.

Warum sollte das, gerade wenn man Sexarbeit in den Status eines normalen Berufs gestellt hat, plötzlich anders sein. Nochmals: Behörden suchen Schwarzarbeit, Sozialbetrug und gefährliche Hygienebedingungen, warum nicht auch Sklaverei?

Thomas Schirrmacher

 

Links

·         Opens external link in new windowhttp://www.erf.de/radio/erf-pop/aktuell/5865-2318 (Radiobericht mit Auszügen der Reden)

·         Opens external link in new windowhttp://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft.html?&news%5Baction%5D=detail&news%5Bid%5D=6580

·         Opens external link in new windowhttp://www.charisma-magazin.eu/test/fortschritte-gegen-den-menschenhandel-auf-dem-34-ev-kirchentag-in-hamburg/

·         Opens external link in new windowhttps://www.facebook.com/pages/MISSION-FREEDOM-eV/246676348719542: siehe Einträge zu 1.5., 2.5., 3.5., 4.5. (mehrfach), 10.5., bis 16.5.2013

·         Opens external link in new windowhttp://mission-freedom.de/menschenhandel/einladung-dr-schirrmacher

·         Opens external link in new windowhttp://www.gemeinsam-gegen-menschenhandel.de/mitmachen/resolution/

·         Kritik: Opens external link in new windowhttp://www.ndr.de/regional/hamburg/kirchentag/wersglaubt/sexarbeiterin109.html

 

Downloads:

·         Auszug aus Kirchentagszeitung (Initiates file downloadpdf)

·         Auszug aus der mopo (Initiates file downloadjpg)

·         alle Fotos: © Ingeborg Laabs

·         Initiates file downloadFoto 1: von links: Thomas Schirrmacher, Ruth Dearnley (Stopp the Traffik), Frank Heinrich MdB, Jörn Blicke LKA, Schwester Paula Fiebag (Solwodi), Gaby Wendtland (Mission Freedom)

·         Initiates file downloadFoto 2: Schwester Paula Fiebag und Thomas Schirrmacher vor vollem Haus

·         Initiates file downloadFoto 3: während der Podiumsdiskussion, von links: Thomas Schirrmacher, Paula Fiebag, Frank Heinrich, Torsten Hebel (Moderator), Ruth Dearnley, Gaby Wendtland, Jörn Blicke

·         Initiates file downloadFoto 4: von links: Thomas Schirrmacher, Paula Fiebag, Frank Heinrich

·         Initiates file downloadFoto 5: Thomas Schirrmacher während seines Referates

Dokumente

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